Das Anorganische in Rote Ohren fetzen durch Asche (A 1991) – Auszug
Andrea B. Braidt

„Nichts, nichts kann mich je besänftigen.“

Rahel Varnhagen

„Sich wie ein empfindendes Ding fühlen, heißt zuallererst, sich von einer instrumentellen Vorstellung emanzipieren, wonach die sexuelle Erregung naturgemäß auf die Erlangung des Orgasmus ausgerichtete wäre.“

Mario Perniola, Der Sex-Appeal des Anorganischen

Schwarzfilm. Synthie-Techno-Sound. Bam. Donner. Bam. Die Credits einer Filmproduktionsfirma (Loop), drei Namen (Angela Hans Scheirl, Dietmar Schipek, Ursula Pürrer). Ein leises Pfeifen. Geräusch einer hängengebliebenen Nadel auf einer Schallplatte - wir sind noch im 20. Jahrhundert. Voice-Over einer weiblichen Erzählstimme, tief, hauchend:

„Im Jahre 2700 – das Jahr der Kröten – war ‚Asche‘ eine ausgebrannte Stadt. Zu groß für ihre Seelen, die sich in finsteren Kellerlöchern zusammenrotteten, war sie ein unbändiges wildes Tier, jederzeit bereit dem Tod ins Gesicht zu pinkeln. Und darin standen ihr ihre Bewohner um nichts nach. Höchst unwahrscheinlich waren die Überlebenschancen eines reinen Herzens.“1

Aufblende auf ein Fenster im nächtlichen Regen, im Gewitter, wehende Vorhänge, Blitz und Bildfragmente in grün und rot, Schwenk auf „Spy“, eine der weiblichen Hauptfiguren (Susanna Heilmayr) am Schreibtisch. Weiße, weite Bluse (New Romance), Federkiel, manisch konzentriert schreibend, oder zeichnend. Zwischenschnitte auf Frucht und Blüte (Les Fleurs du Mal), sie öffnet die Bluse, nimmt einen Schluck aus der Schnapsflasche und geht zum Fenster. Von außen sehen wir sie mit aufgerissenen Augen (Cathy? Heathcliff?) das Fenster schließen, Cut Away auf zwei pissende Heilige, es blitzt. Ein Zweig schlägt aufs Fenster. Szenenwechsel.

So beginnt Österreichs erster und vermutlich wichtigster Beitrag zur queeren Filmavantgarde, der experimentelle Spielfilm Rote Ohren fetzen durch Asche. Eine no-budget Produktion, Wiens feministische, queere Avantgarde-Performance-Musik-Szene fungiert als Ensemble, es ist eine wilde, elliptisch erzählte und von Ton- und Bild-Aphorismen strotzende Tour de Force in die Zukunft einer Stadtruine, durch die sich die Protagonist_innen mit den bedeutsamen Namen Spy, Volley, Nun und M tanzen, kämpfen, schlagen, ficken, lieben und hassen. Neben den Menschen spielen die Dinge eine tragende Rolle, und um die Dinge soll es hier in erster Linie gehen. Denn das Ding, das Objekt, also das Anorganische (mit Mario Perniola), birgt ein Emanzipationsversprechen. Perniola sieht in der Verbindung der Sinne mit den Dingen die Chance, den Sex vom Empfinden zu befreien, oder zumindest zu „suspendieren“ (giocoforza) und so einen Sex zuzulassen, der Erkenntnisgewinn ermöglicht, weil er nicht als Leistungskurve von Null auf Hundert und wieder auf Null gestellt wird bzw. werden kann. Der Sex-Appeal des Anorganischen liege in der Befreiung des Sexes von der Orgasmusmanie, und sei

„der erste Schritt zur neutralen, suspendierten und künstlichen Sexualität des empfindenden Dinges. Sie emanzipiert die Sexualität von der Natur und vertraut sie dem Kunstgriff an, welcher uns eine Welt eröffnet, in der die Differenz zwischen den Geschlechtern, der Gestalt, der sinnlichen Erscheinung, der Schönheit, dem Alter und den Rassen keine Bedeutung mehr hat.“2

Mit diesen Worten nahtlos an queere dekonstruktive Subjekttheorien und Heteronormativitätskritik anschließend, lässt sich mit Perniola die enigmatische, aphoristische Filmpoetik von Rote Ohren Fetzen durch Asche als paradigmatischer Baustein in einer Tradition sexueller Avantgarden lesen. Mit seiner Inszenierung der Dinge erreicht der Film eine radikale Entnaturalisierung von Sexualität, eine Entnaturalisierung die essentiell ist für die queere avantgardistische Film- und Kunstbewegungen post-Rote Ohren.

Aphorismus

Der Duden definiert 2020 den Aphorismus als „prägnant-geistreichen, in sich geschlossenen Sinnspruch in Prosa, der eine Erkenntnis, Erfahrung, Lebensweisheit vermittelt.“ Das Lexikon des gesamten Buchwesens on-line bespricht den Aphorismus als literarische Gattung, als „sach- und fachspezifische Kurzprosaform, deren Eigenart in der besonderen Darbietungsweise des Gedachten besteht.“3 Ihre Entwicklung gehe zurück auf Hippokrates, nehme Fahrt auf bei Erasmus von Rotterdam im 16. Jahrhundert und finde ihre „meisterhafte Kunsthöhe“4 in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts bei Schopenhauer und Nitzsche. Verschwiegen wird hier Rahel Varnhagen, jene Virtuosin des Aphorismus, deren Lebensgeschichte Hannah Arendt 1933, also hundert Jahre nach dem Tod Varnhagens - ihr aller erstes Buch5 widmete. Varnhagens (1771-1833) Werk besteht ausschließlich aus Briefen und Tagebüchern, Genres die erst in den 1970er Jahren als literarische Genres von Autorinnen gleiche Bedeutung wie die Roman- oder Gedichtform erlangen würden. Arendt war also früh in ihrer Würdigung der bemerkenswerten Frau, deren Sprache die Essenz der Romantik traf, wir hier in einem von Arendt zitierten Ausschnitt in dem Varnhagen einem ihrer Korrespondenten einen Traum erzählte:

„ ‚Kennst Du Kränkung?‘ fragten wir uns zum Beispiel; und wenn man nun diesen Schmerz im Leben empfunden hatte, so sagten wir: ‚Ja! Die kenne ich‘, mit einem lauten Schmerzensschrei und dieser Schmerz eben, wovon die Rede war, riß sich hundertfach schmerzhaft aus dem Herzen: man war ihn aber los auf ewig und fühlte sich ganz heil und leicht. Die Mutter Gottes war immer still, sagte nur Ja! Und weinte auch; Bettina [Bretano; Anm. AB] fragte: ‚Kennst Du Liebesschmerz?‘ Wimmernd und wie heulend rief ich unter rinnenden Tränen, ein Schnupftuch vor dem Gesicht ein langes, langes Ja! […]“6

Rinnende Tränen, wimmern, heulen, Schmerzensschreie und sich etwas aus dem Herzen reißen; alles Bestandteile der Diegese von Rote Ohren Fetzen durch Asche, die Figuren könnten allesamt der Sprachbilderwelt von Varnhagen entsprungen sein, wenngleich sie den Anspruch auf Lebensnähe mit Varnhagen nicht teilen. Diese, so wird sie zumindest von Arendt beschrieben, exponierte sich dem Leben, sodass es „sie treffen“ konnte, „wie Wetter ohne Schirm“7 („Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen“8). Und so wie Varnhagen ihr Wissen um das Leben in Aphorismen gießt, so erschließt Rote Ohren seine Erzählung in filmischen Aphorismen, in kurzen visuellen und auditiven Versatzstücken, die als Teile fürs Ganze stehen, und in enge visuelle Reihe aneinander gekettet werden.

[...]

Aus: Andrea B. Braidt, „Aphorismus und Avantgarde. Das Anorganische in Rote Ohren fetzen durch Asche“
in: „Noch Fragen“. Festschrift für Klemens Gruber, Aki Beckmann und David Krems (Hg.), Maske und Kothurn, 65. Jg, Heft 1-2, Wien: Böhlau 2020, S. : 54-58

Mit freundlicher Genehmigung von Andrea B. Braidt


1 Rote Ohren Fetzen durch Asche, R: Ursula Pürrer, Dietmar Schipek, Angela Hans Scheirl, A 1991.
2 Mario Perniola, Der Sex-Appeal des Anorganischen, Wien: Turia und Kant 1999, S. 11.
3 [Aphorismus], Verf. H. Schwitzgebel, Lexikon des gesamten Buchwesens on-line,
4 Ebd.
5 Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München: Pieper Verlag 1981. [1933]
6 Varnhagen, zit. ebd., S. 153.
7 Ebd., S. 12.
8 Ebd.

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