Gemeinsam…!
Nähe, Verantwortung und Solidarität mit Anderen
Remake bringt im diesjährigen Thema etwas zur Sprache, was immer schon im Hintergrund vorheriger Programme anklang: Ganz selbstverständlich bei einem Festival, das der Geschichte und Gegenwart feministischer Filmarbeit verbunden ist und mit ihr den Frauenbewegungen. Eine Bewegung ist keine one woman show, zu ihr braucht es die Vielen!
Einen wichtigen Anstoß, Gemeinsamkeit diesmal zum Gegenstand zu machen, gab unter anderem der brasilianische Film MATO SECO EM CHAMAS / DRY GROUND BURNING, gesehen 2022 im Forum der Berlinale. Der Film läuft nun am Festivalfreitag bei Remake. Die beiden Regisseur*innen und sechs (Laien-) Darstellerinnen erschaffen darin eine Fiktion, die sich mitreißend gegen eine hegemoniale Ideologie stemmt. Ihr Vorhaben: „Ein Film, der, mit Bildern, dasjenige Territorium entwerfen könnte, das von den Körpern und den Wünschen einer ganzen Generation belebt wird, entwurzelt, segregiert und eingesperrt im Namen des Projekts der brasilianischen Nation“, so Adirley Queirós und Joana Pimenta. „Zusammen mit den Frauen haben wir Figuren entwickelt, geformt aus gemeinsamen politischen Erinnerungen und einer kollektiven Idee für diese umkämpften Gebiete. Unser Wunsch ist es, den Sieg davonzutragen gegen die Unausweichlichkeit des Schicksals.“
Im Kino sehen wir Filme gemeinsam. Die neoliberale Ideologie zerstört das intime Gefüge, auf dem Zwischenmenschlichkeit gründet, der „Internetkomplex“ (Jonathan Crary), die „Sozialen“ Medien, bedingen die „Zersplitterung der sozialen Welt“. Das langsame Verschwinden des Kinos, eines Raums gemeinsamen Sehens und erfahrener Nähe, ist eng mit diesen Prozessen verknüpft: „Die Allgegenwart kollektiver Räume, die durch Gleichgültigkeit gegenüber der Nähe der anderen gekennzeichnet sind, ist untrennbar mit der Katastrophe unserer heutigen verbrannten Erde verbunden. Sie wird zur negativen Einstimmung auf eine Welt, die keine gemeinsame mehr ist.“
Die Frauen aus MATO SECO EM CHAMAS sind Leitsterne: Inspiration für eine Wahrnehmung von mehr und anderem als nur der Zersplitterung und Sinnlosigkeit gegenwärtiger Weltbeherrschung. Im Fokus des Programms: Filme, die von Miteinander, Solidarität und Zugehörigkeit erzählen. Filme, die sich identitärer Politik, diskriminierenden Kategorien und Naturzerstörung widersetzen. Wenn wir leben, dann nur in einer komplexen Welt von Beziehungen unter Menschen und unter allem übrigen, das existiert und uns umgibt: belebte und „unbelebte“ Natur.
Im Kino mögen uns die Frauen-Wohngemeinschaften und Kommunen, die queeren Wahlfamilien und Indigenen Widerständler*innen, Gruppen der von Krieg in Körper und Seele Beschädigten, der Traumatisierten; mögen uns Tauben und Pferde Weggefährt*innen sein, beim Weiter Sehen.
Aus Fragmenten, den Erinnerungstücken alter Gemeinschaften und den Bruchstücken von Hoffnung in den neuen, die Utopie des geteilten Eigentums, der Selbstverwaltung und gegenseitigen Hilfe wiedergewinnen. Oder: die Erde als den einzigen Ort solchen gemeinsamen Lebens anschauen.
Gaby Babić
„Verhältnisse, die erst wirklich die Bezeichnung menschlich und frei verdienen“
Die Dokumentaristin Edith Marcello
DAS HAT MICH SEHR VERÄNDERT (1976), ein kollektiv realisierter Film über das erste Frankfurter Frauenzentrum, war Teil des Remake-Programms 2018. Dem mittellangen Dokumentarfilm in Regie von Edith Marcello – bis in die 1980er Jahre trug sie den Nachnamen Schmidt – folgte bei der dritten Festivalausgabe PIERBURG – IHR KAMPF IST UNSER KAMPF, ein Film, der einen überwiegend von Migrantinnen geführten wilden Streik in einem Autozulieferbetrieb 1973 begleitet. Marcello hatte PIERBURG, wie viele andere ihrer Filme, in Ko-Regie mit David Wittenberg realisiert und in enger Zusammenarbeit mit Streikenden und Betriebsrat. Beide Filme, wie auch andere Marcello/Wittenberg-Filme aus den 1970er und 1980er Jahren, dienten der Popularisierung von Kämpfen und Bewegungen; sie standen im Kontext von Diskussionen, Veranstaltungen und basisnaher Vernetzungsarbeit. Zehn Jahre lang war Marcello Teil des Mai-FilmKollektivs, eines Frankfurter Verleihs, der von ihr, Regine Dermitzel, Lui Tratter, Günther Wagner und David Wittenberg betrieben wurde.
Edith Marcellos filmisches Werk ist trotz seines Umfangs und seiner Qualität in der filmhistorischen Forschung bisher unbeachtet geblieben und einem heutigen Publikum unbekannt. Remake will dies ändern.
Edith Marcello wurde 1937 geboren. Seit den 1960er Jahren macht sie Filme. Sie studierte zunächst Malerei und kam über die Arbeit in einer ZDF-Spielfilmkommission zum Filmemachen. Ihre Berufsjahre umfassen über fünf Jahrzehnte, in denen sie vor allem Reportagen und Dokumentarfilme für den Öffentlichen Rundfunk, den hr, das ZDF und den WDR realisierte, aber auch abendfüllende (Kino-) Dokumentarfilme sind Teil ihres Werks. Sie liefen auf Filmfestivals und fanden kleine, unabhängige Verleihe.
Marcellos Filmarbeit gilt in erster Linie sozialen Bewegungen. Zu Beginn widmet sie sich migrantischen Arbeits- und Lebenserfahrungen und migrantischer Selbstorganisation in der BRD – wir zeigen die beiden hr-Produktionen BILLIGE HÄNDE – AUSLÄNDISCHE ARBEITERINNEN IN DEUTSCHLAND (1969) und DIE KINDER DER GASTARBEITER – BERICHT ÜBER EINE MINDERHEIT (1970). Es folgten Filme über wilde Streiks und selbstverwaltete Betriebe, so z.B. WIR HALTEN DEN BETRIEB BESETZT – DIE ZEMENTWERKER IN ERWITTE (1975–76), der beim diesjährigen Festival auch zu sehen sein wird. War Marcello schon in den 1960ern insbesondere am Leben von Arbeiterinnen interessiert, widmete sie sich in den 1970ern der Frauenbewegung in der BRD und in Italien. Die ZDF-Reportagen WIR FRAUEN SEHEN UNS AN – ERFAHRUNGEN AUS DER FRAUENBEWEGUNG (1977) und „WIR FRAUEN SIND UNBEZAHLBAR“ – ZUR DISKUSSION UM „LOHN FÜR HAUSARBEIT“ (1979) sind ebenso Teil des Programms wie die Filme DAS LAND, DAS WIR UNS NEHMEN – EINE ITALIENISCHE LANDKOOPERATIVE (1981) und EIN MENSCH, DER ZU FUSS GEHT, IST VERDÄCHTIG (1983), die alternative Landwirtschaftsprojekte in den Fokus nehmen.
Edith Marcello geht es um kritische Analysen der Gegenwart aus der Perspektive und im Geiste alternativer, progressiver Bewegungen. Es geht ihr immer um politische Solidarität mit den Menschen, den Kollektiven und insbesondere den Frauen, die auf die Veränderung von Lebenszusammenhängen drängen, auf „Verhältnisse, die erst wirklich die Bezeichnung menschlich und frei verdienen“.
Gaby Babić
„Wir wollen immer noch alles und von allem anderen die Hälfte“...
Tribut an CHAOS FILM Hildegard Westbeld
CHAOS FILM, der bis vor Kurzem einzige Frauen Film Verleih, den es in der Bundesrepublik je gab, existierte von Anfang 1979 bis Ende 1980. In dieser knappen Zeit hat der Verleih einen Meilenstein in der bundesrepublikanischen Kinogeschichte gesetzt. Seine Geschichte ist auch die der Frauenbewegung und ihres Engagements an Film und Kino.
In den 1970er Jahren begann sich eine feministische Filmszene in Westberlin und der BRD zu entwickeln: 1973 fand das 1. Internationale Frauenfilmseminar in Berlin statt (siehe auch die Veranstaltung mit feminist elsewheres bei Remake), infolge,1974, erschien das erste Heft der Zeitschrift Frauen und Film, ebenfalls dort. Es folgte 1977 die Gründung der Initiative Frauen im Kino und 1979 des Verbands der Filmarbeiterinnen. Berlin wirkte in die Republik hinein, und wir in Frankfurt lasen nicht nur Frauen und Film, wir begannen an FuF mitzuarbeiten, erste feministische Filmseminare zu halten und um 1980 entstanden hier gleich zwei Frauenkinoinitiativen. Als leuchtender Stern am feministischen Filmhimmel aber und Fanal des Aufbruchs in eine neue Zukunft des Kinos tauchte 1979 CHAOS FILM auf – eine der Filmarbeiterinnen wagte es, mit einem autonomen Verleih nur für Filme von Regisseurinnen auf dem Feld des Filmgeschäfts aufzutreten. Diese Filmarbeiterin war Hildegard Westbeld. Als gebürtige Westfälin brachte sie den nötigen Mumm zu diesem Wagnis mit. 1977 war sie von Bochum nach Westberlin gekommen und ab sofort aktiv in der dortigen Filmszene geworden, als erstes für den Verleih des Arsenal. Doch hatte sie von Anfang an das Ziel, so viel wie möglich für die Präsenz und Teilhabe der Frauen an Film und Kino zu tun. Die Initiative Frauen im Kino und der Verband der Filmarbeiterinnen waren mit ihrer Beteiligung entstanden. „Wir wollen immer noch alles und von allem anderen die Hälfte“... Tribut an CHAOS FILM ist auch eine Würdigung der Arbeit und des feministischen Engagements von Hildegard Westbeld.
Der allererste Film, den Westbeld 1979 für den Verleih erwarb, war LEGACY von Karen Arthur, der nach Festivalerfolgen in der Versenkung zu verschwinden drohte und damals ein zentrales Thema der Frauenbewegung aufgriff: das Hausfrauendasein in der patriarchalen Familie. Es kamen die frühen Filme von Elfi Mikesch hinzu, die lesbischen „Manifeste“ von Jan Oxenberg, A COMEDY IN SIX UNNATURAL ACTS und HOME MOVIE und vieles andere.
Die Filmkopien des CHAOS FILM-Verleihs liegen im Archiv des Arsenal, Berlin. Das Papierarchiv, einschließlich der Dokumente weiterer feministischer Filmaktivitäten, hat Hildegard Westbeld in diesem Jahr der Kinothek Asta Nielsen übergeben. Eine Ausstellung wird einen ersten Einblick in diesen Vorlass geben.
Karola Gramann und Heide Schlüpmann